ALFA-FORUM Nr. 60 (2005)
Räumliche und zeitliche Orientierung Beiträge zum Schwerpunktthema
-Eggert, Dietrich und Koller, Dennis: Die Rolle der Raum-Zeit-Entwicklung bei Störungen der Aneignung der Sprache.
-Nestle, Werner: Zeitliche und räumliche Orientierung als Komponente des Schriftspracherwerb.
- Kamper, Gertrud: Ich bin der Bezugspunkt meines Systems – und Du? Über Seiten, Richtungen und Beziehungen und räumliche Begriffe.
- Kamper, Gertrud: Von dieser Position aus gesehen. Über Standpunkte und Perspektiven – von Feldern und Buchstaben bis zu anderer Leute Schuhe.
- Lipka, Marlies: Legasthenietherapie und räumliche Orientierung.
-Schladebach, Almut: „Ach du liebe Zeit“. Kreatives Schreiben zum Thema Zeit.
-Lassen, Ille: Von Räumen und Zeiten – ein Ausflug in neue Gärten.
- Ruf, Irinell: „Wir knacken die Nüsse“ - ein ungewöhnliches Projekt in Kooperation mit dem Hamburg Ballett John Neumeier.
- Seifert, Jörg: Cognitive Map, Mind Mapping und Mnemo-Technik. Raumeindrücke mental verorten, Wissensstrukturen visualisieren, Vorstellungsräume zum Lernen nutzen.
Allgemeine Beiträge
- Ritter, Monika: Alphabetisierung mit MigrantInnen: Brückenkurs oder kombinierte Kurse für Alphabetisierung und Deutsch?
- Hubertus, Peter: Alphabetisierung in Deutschland. Kursangebote der Volkshochschulen im Jahr 2004.
- Menzel-Schmeer, Klara und Steuten, Ulrich: Gut gemeint und doch daneben. Ein Beitrag aus der Zeitschrift Publik-Forum erweist der Alphabetisierung einen Bärendienst.
- Schöber, Gerald: Dumm oder krank: Cui bono? Der „Alfa-Rundbrief" 30 vom Sommer 1995.
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
Sich im Raum und in der Zeit zu orientieren, sich zurechtzufinden und darüber kommunizieren zu können – das gehört zu den ganz wichtigen Voraussetzungen, die bereits im Kindergarten für einen erfolgreichen Übergang in die Schule erworben werden sollen. In der Grundschule sollen diese Fähigkeiten dann weiterentwickelt werden. Wer sich das im frühen Alter nicht bis zu dem Niveau angeeignet hat, das im Schulunterricht vorausgesetzt wird, bekommt Probleme: Schreiben und Rechnen verlangen den kompetenten Umgang mit „davor“ und „danach, mit „dazwischen“, mit „über“ und „unter“, „hinter“ und „vor“, „erst“ und „dann“ usw. usf. Ausrichtung, Reihen und andere Ordnungsprinzipien spielen für die Schreibung und schon für die einfachsten mathematischen Operationen eine unverzichtbare Rolle. Vorstellungen solcher Beziehungen und das Vokabular für sie sind kulturspezifisch und werden im Handeln und Sprechen erworben – das gilt für jedes Alter. Orientierung in Raum und Zeit gehören zu den elementaren Voraussetzungen des Lesen- und Schreibenlernens und werden auch im Alltag ständig gebraucht. Elementare Voraussetzungen wirken so selbstverständlich, dass die Frage, in welcher Qualität Teilnehmer/innen sie in den Unterricht bereits mitbringen, oft gar nicht gestellt wird. Sie dürfen aber in Alphabetisierung und Grundbildung nicht übersehen werden. Zum einen, weil der Lernfortschritt im Kurs durch Umfang und Qualität dieser grundlegenden Fähigkeiten mitbedingt wird. Zum anderen, weil es durchaus möglich ist sie zu vermitteln – dies somit eine genuine Aufgabe für Alphabetisierung und Grundbildung ist. 1987 und 1990, als Gertrud KAMPER ihre Forschungsergebnisse zu „Elementaren Fähigkeiten in der Alphabetisierung“ und „Analphabetismus trotz Schulbesuchs“ vorgestellt hat, war das schon einmal Thema.
Die Ausbildung dieser Orientierungsfähigkeiten startet früh, entsprechend beginnt dieses Heft mit zwei Beiträgen aus der Entwicklungspsychologie. Dietrich EGGERT und Dennis KOLLER beschreiben die Bedeutung neuerer Befunde zur Raum- und Zeitentwicklung aus der psychomotorischen Forschung für die Förderung von Lernvoraussetzungen, für die Aneignung von Schriftsprache und Mathematik und verweisen auch auf Möglichkeiten ganzheitlicher Diagnostik. Aus der Perspektive des situationsbezogenen Konzepts und der Ausbildung der Symbolfähigkeit stellt Werner NESTLE das Erleben und die Bedeutsamkeit von Zeiten und Räumen für Kinder dar. Theoretische Grundlagen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven, beide müssen auf ihre Bedeutung für die Arbeit mit erwachsenen Lernenden hin überdacht werden und regen unbedingt zum Weiterdenken wie zum Überprüfen eigener unhinterfragter Annahmen an.
In zwei Beispielen beschreibt Gertrud KAMPER, wie Fähigkeiten der Orientierung im Raum vermittelt werden können. Diese Arbeiten sind Teil des umfangreicheren Konzepts des Vermittelns von Lernstrategien bzw. von „Denkwerkzeugen“. Die Begriffe für räumliche und zeitliche Verhältnisse können als solche Werkzeuge des Denkens verstanden werden. Marlies LIPKA erläutert, wie sich Schwierigkeiten mit der räumlichen Orientierung in Legasthenie- und Dyskalkulie-Therapien bemerkbar machen. Sie stellt Beispiele vor, wie sich eine Förderung in diesen Bereichen als Teil einer Unterstützung der gesamten kognitiven Entwicklung auf den Fortgang von Lerntherapien positiv auswirkt.
Im Sinne einer ganzheitlichen Perspektive auf Lernprozesse ist selbstverständlich, dass kognitive Entwicklung und Förderung nicht isoliert funktionieren – Kreativität, Kunst, Körper sind weitere notwendige Stichworte. Almut SCHLADEBACH stellt einen Schreibtag vor, an dem Zeit nicht nur eine Rolle spielte, weil sie – wie immer – zur Verfügung stand oder nicht ausreichte etc. In diesem Fall war Zeit selbst Thema des kreativen Schreibens. Über Wahrnehmungsfähigkeiten und deren Förderung durch Kunst reflektiert Ille LASSEN. Sie versucht mit Techniken aus der Bildenden Kunst Wege zu finden, bei ihren Teilnehmer/innen Wahrnehmungsfähigkeiten zu fördern und darüber das Erlernen des Lesens und Schreibens zu erleichtern. Körperlich-emotionales Tanz-Training liefert das Fundament für eine veränderte räumliche und zeitliche Wahrnehmung. Irinell RUF schildert ein solches Projekt als ganzheitlichen Prozess und hebt dabei die Perspektive des Wahrnehmens räumlicher und zeitlicher Entwicklungen hervor.
Mehr oder minder souverän über räumliche Orientierung und räumliches Vorstellen zu verfügen, ist unverzichtbar, um die Anforderungen von Grundbildung zu bewältigen. Die Entwicklung dieser Fähigkeiten endet damit aber nicht. Wer hat noch nie Mind Maps gezeichnet, um sich komplexe Sachverhalte anschaulicher zu machen – oder hat noch nie darüber gegrübelt, wie gut es wäre, könnte man die eigenen Gedächtnisleistungen verbessern. Jörg SEIFERT stellt die Konzepte von Cognitive Map, Mind Mapping und Mnemotechnik vor und auch einander gegenüber und erläutert, wie Vorstellungsräume zum Lernen genutzt werden können.
Um an eine Anmerkung aus dem Editorial des letzen Heftes anzuknüpfen: Auch die relativ elementaren Lernvoraussetzungen erwachsener Lernender, ihre Bedeutung, Diagnose und Förderung sind Teil des Themas „Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“, für das im Interesse einer langfristigen und stabilen Alphabetisierungsbewegung eine Implementierung im wissenschaftlichen Hochschulbetrieb gefordert wird.
Übrigens: Vor genau zwanzig Jahren erschien die erste Ausgabe des „Alfa-Rundbriefs", der Vorgängerzeitschrift des ALFA-FORUM.
Gertrud Kamper und Cordula Löffler Mitglieder des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung e.V. erhalten auf diesen Artikel 20% Rabatt.